90 Jahre der Gemeinde im Herzen Kasachstans

Nach der Jubiläumsschrift der Gemeinde „Wiflejemskaja Swesda“ in Karaganda

Die ihr den HERRN fürchtet, vertraut auf den HERRN! Er ist unsre Hilfe und Schild. Psalm115,11

1931-1946

Das Jahr 1931 war für Karaganda, damals eine kleine Arbeitersiedlung in der zentralkasachstanischen Steppe, das Jahr, in dem sie durch eine 200 km lange Eisenbahnlinie von Akmolinsk mit dem „großen Land“ verbunden wurde. Gemäß den großen Industrialisierungsplänen der Sowjetunion brachten die Züge in den nächsten Monaten und Jahren immer neue Siedlergruppen, meistens zwangsweise, in die unwirtliche trockene Steppe. Die Zahl der Einwohner stieg in zwei Jahren von 2.000 auf 118.000. Unterkünfte wurden erst nach der Ankunft der Verbannten aufgebaut und auch die Versorgung mit Lebensmitteln hinkte dem Bevölkerungswachstum stark hinterher. Gleichzeitig füllte sich das KZ „Karlag“ mit Häftlingen, unter denen viele nicht für kriminelle Verbrechen, sondern als „antisowjetischen Elemente“ verurteilt worden waren. Unter den Letzteren waren auch viele Christen.
Schon unter den ersten Verbannten gab es viele Baptisten und Mennoniten. Auch in den schwersten Lebensumständen drängte sie die Sehnsucht nach geistlicher Gemeinschaft und göttlichem Trost in den Nöten, die sie getroffen hatten. Sie suchten in der Menge der Leidensgenossen Glaubensgeschwister. Die 200 Mennoniten aus der Ansiedlung Am Trakt (60 km von Saratow entfernt) wurden in eine deutsche Siedlung in Maikuduk (6 km vom Zentrum Karagandas) gebracht und hatten es einfach, miteinander in Gemeinschaft zu stehen, einander zu sehen, miteinander Gestorbene zu Grabe zu tragen und sich um das Wort Gottes zu scharen. Russische Gläubige kamen aus verschiedenen Gegenden Zentralrusslands und wurden in verschiedene Siedlungen in Karaganda verteilt (Tichonowka, Kompanejsk, Maikuduk und andere). Bei ihnen dauerte es länger, bis sie sich gegenseitig kennenlernten. Im Jahr 1932 bildeten sich Gruppen in verschiedenen Siedlungen, die unregelmäßig Versammlungen durchführten. Sie riskierten dadurch ihre Freiheit und trafen sich in Gräben, Senken oder noch unfertigen Häusern, um so von den Behörden unbemerkt zu bleiben.
Nach den ersten Hunger- und Sterbejahren (innerhalb von zwei Jahren starben 1/3 der Verbannten) wurde das Leben etwas geordneter und die Repressionen des Sowjetstaates begannen richtig zu greifen. Im April 1934 wurden sechs Mennoniten und drei Baptisten wegen antisowjetischer religiöser Tätigkeit verhaftet und zu drei bzw. fünf Jahren Lagerhaft verurteilt.
Die deutschen Gläubigen setzten ihr Glaubensleben nur im engen Familienrahmen fort. Die russischen Gruppen konnten sich durch die Einsetzung eines Ältesten 1935 zu einer Gemeinde zusammenschließen, auch wenn ihre Zusammenkünfte weiterhin gruppenweise in den verschiedenen Siedlungen stattfanden. Die Aufgabe des Ältesten wurde Stepan Iwanowitsch Kolesnikow (1878-1967) übertragen, der sie zunächst bis 1948 ausfüllte. Als 60-jähriger musste er dafür eine dreijährige Haft (1937-1940) abbüßen, machte danach aber trotzdem weiter. Sein Dienst bestand im Besuch der einzelnen Geschwister und kleinen Gruppen, oft zu Fuß. So kamen die Gläubigen zusammen, lasen und besprachen Bibeltexte und Geschichten und nahmen gemeinsam das Abendmahl. Bei solchen Hauszusammenkünften wurde 1943 mit Chorgesang angefangen. Hin und wieder wurden Neubekehrte getauft. Das geschah meistens nachts: ein bis zwei Täuflinge mit einigen Glaubenszeugen und dem Ältesten gingen zu einem entfernten Teich, wo der göttliche Bundesschluss vollzogen wurde. So wurden in den Jahren 1935-1946 etwa 100 Geschwister getauft.

1946-1956

Nachdem die Sowjetregierung den Baptisten 1944 die Eröffnung von Bethäusern erlaubte, ersuchten die Brüder in Karaganda 1945 eine staatliche Anerkennung der Gemeinde mit etwa 70 Mitgliedern, was ihnen zunächst nicht gestattet wurde, weil sie als Sondersiedler keine Bürgerrechte besaßen. Doch schon diese Bemühungen um Legalisierung veranlasste viele Mitglieder, die zuvor aus Angst auf Abstand gegangen waren, die Versammlungen wieder zu besuchen. Nach vielen Behördengängen wurde die EChB-Gemeinde mit 150 Mitgliedern registriert und durfte ein Bethaus öffnen. So wurde im Herbst 1946 in Kopaj-Gorod (eine Siedlung in der Nähe des älteren Stadtzentrums) eine Erdhütte erworben und zu einem Bethaus eingerichtet.
Jetzt strömten erst recht Scharen von Gläubigen und Gottsuchenden – darunter Russen, Deutsche, Ukrainer und andere – zu dem Haus, in dem das Wort Gottes verkündigt wurde. Dort berührte der Heilige Geist ihre Herzen, viele taten Buße, ließen sich taufen und wurden Mitglieder der Ortsgemeinde Christi, die in der Folgezeit als „Kopaj-Gemeinde“ bekannt wurde.
Als die Zahl der Bekehrten stark anwuchs wurde für den 8. August 1948 ein Tauffest anberaumt. Im kleinen Steppenfluss Kopychta (jetzt Kokpekty) wurde am helllichten Tag eine große Gruppe von 112 Geschwistern getauft. Unter den Täuflingen waren viele Deutsche, die in der russischen Gemeinde geistliche Speise suchten und aktiv am geistlichen Leben teilnahmen. Das große Taufffest hatte leider auch ein böses Nachspiel: Der alte Älteste Kolesnikow wurde abgesetzt und musste nach einigen Jahren die Gemeinde verlassen. Diejenigen, die mit ihm gingen, bildeten 1952 eine zweite Gemeinde, die auch heute noch existiert und geistlich aktiv ist. An Stelle von Kolesnikow wurde Iwan Andrejewitsch Jewstratenko (1897-1986), ein Evangelist der 1920er Jahre, Ältester.
In den letzten Regierungsjahren Stalins verstärkten sich die Verfolgungen und den Gemeinden wurden viele Einschränkungen auferlegt. Dennoch wuchs die Gemeinde in Karaganda und erreichte 1956 die Marke von 1000 Mitglieder.

1956-1986

Die Erdhütte hatte sich schnell mit Menschen gefüllt, die das Wort hören und denjenigen anbeten wollten, der gestorben und auferstanden ist, um den sündigen Menschen Erlösung zu schenken. Die Frage der Erweiterung des Bethauses wurde immer akuter.
Der Herr ermöglichte es dem Ältesten Iwan Andreewitsch Jewstratenko (1948-1959) eine Erlaubnis zum „Umbau“ der Erdhütte zu erhalten. Viele Mitglieder und Besucher packten an, auch wenn sie selbst in sehr ärmlichen Hütten wohnten. Die offizielle Erlaubnis wurde genutzt, um an Stelle der Erdhütte ein großes zweistöckiges Gemeindehaus zu errichten. Am 18. November 1956 wurde das neue stattliche Bethaus eingeweiht, das bis zu 1500 Personen fassen konnte. Es ist unmöglich, all die Segnungen zu zählen, die der Herr über einen Zeitraum von 40 Jahren in diesem Bethaus über sein Volk ausgoss.
Ab 1959 gab es an jedem Sonntag und Mittwoch zusätzliche Versammlungen in deutscher Sprache, die gut besucht wurden. Ab den 1970ern wurden Bibelstunden für die ganze Gemeinde und für die Jugendlichen durchgeführt. Zwei Jugendchöre (russisch und deutsch), ein Blasorchester und zwei gemischte Orchester (russisch und deutsch) verschönerten die Versammlungen und besonders die Feste. Seit 1972 wird in der Gemeinde besonders das Gebet für das kasachische Volk gepflegt. Es gab viele Bekehrungen, Taufen, Eheschließungen und Einsegnungen.
Nach Jewstratenko diente ab 1959 als Ältester der Gemeinde Piotr Iwanowitsch Posharizkij (1898-1997). 1976 wurde Posharizkij abgesetzt und Emil Kondratjewitsch Baumbach (1926-1998), der schon seit 1973 Mitältester war, übernahm die Verantwortung des Ältesten. Die Zeit seiner Ältestenschaft war 1976-1988. Johann Koop (1925-2001) wurde 1977 als zweiter Ältester eingesegnet. In dieser Zeit überschritt die Zahl der Gemeindemitglieder 1400. Das Bethaus bekam zusätzliche Räume: ein Predigerzimmer, ein Büro und ein Garderobenraum.
1981 wurde das 50-jährige Jubiläum gefeiert.

1986-1998

Im Jahr 1986 wurde beschlossen, den Ort der Anbetung, der von vielen geliebt wurde, zu verschönern. Es war eine Freude zu sehen, wie alle Generationen der Gemeinde – Kinder, junge Leute, Brüder und Schwestern mittleren Alters und Alte – hart arbeiteten. Vom frühen Morgen bis spät in die Nacht arbeiteten sie wie eine große, harmonische Familie und schonten ihre Kräfte nicht. Gott segnete die Arbeit seines Volkes und das Bethaus für alle Völker verwandelte sich.
In diese Zeit fiel die große Auswanderung der Deutschen. Es gab viele Tränen und Abschiede, sowie einen schmerzlichen Ältestenwechsel. 1988 übernahm Johann Koop (russisch Iwan Iwanowitsch) den Dienst als verantwortlicher Ältester der Gesamtgemeinde. Gleichzeitig begann die große Freiheit für die Evangelisation. Gott sandte den Menschen in der gesamten Sowjetunion, auch in Karaganda, ein großes Verlangen nach einem echten und bleibenden Halt und das Wort Gottes konnte großflächig verkündigt werden. Kulturpaläste, Sportarenen, Stadien, Schulen, Krankenhäuser und das Radio konnten für die Verkündigung des Evangeliums genutzt werden. Viele nahmen das Wort an und kamen in die Gemeinde, sodass heute die Gemeinde zum Großteil aus denen besteht, die in den 1990ern zum Glauben kamen.
1989 wurde in einem östlichen Stadtteil (Kirsawod) ein Gemeindehaus gekauft und ein Teil der Gemeindeglieder bildet dort seit 1990 eine selbständige Gemeinde. Die Muttergemeinde nahm 1993 den Namen «Вифлеемская Звезда» („Stern von Bethlehem“) an und die Tochtergemeinde wurde «Вефиль» (Bethel) genannt.
1992 übergab Johann Koop den Ältestendienst an Wjatscheslaw Michailowitsch Shurawlew (1940) und wanderte nach Deutschland aus. In Shurawlews Zeit (1992-2006) war die Gemeinde stark auf Evangelisation im ganzen Karagandagebiet und in ganz Kasachstan ausgerichtet.

1998-2022

Karaganda ist eine „wandernde“ Stadt, d.h. die Bewohner mancher Stadtteile müssen umziehen, wenn ihre Wohngebiete in der von der Industrie zerstörten Landschaft versanken. So geschah es auch mit Kopaj-Gorod. In der Nähe des Bethauses gab es keine Häuser mehr, und die Busse fuhren nicht mehr in diese Gegend. Das Bethaus stand nun einsam im „schwarzen Meer“ der Abraumhalden. Immer häufiger dachten die Brüder über einen Ortswechsel nach. Im März 1997 wurde das Kinogebäude „Abaj“ gekauft. Emsig gingen die Gemeindeglieder an den Umbau, der in Rekordzeit erledigt wurde. Alle, Klein und Groß, arbeiteten von der Morgendämmerung bis zum Abendgrauen, um ein neues Haus für die gemeinsame Anbetung Gottes zu schaffen. Am Vortag der Einweihung, die am 10. Mai 1998 stattfand, wurde im Bethaus eine Missionskonferenz abgehalten, bei der viele beschlossen, sich aktiv an dem Projekt „Das Evangelium für ganz Kasachstan“ zu beteiligen. Im Jahr 2001 wurde ein Nebengebäude für die Sonntagsschule „Swesdotschka“, Hilfsgüterlager und Wirtschaftsräume gebaut. Das 70-jährige Jubiläum wurde erstmals mit einem Geschichteseminar ergänzt. Die Anfangsgeschichte in Karaganda wurde in dem Buch «Я с вами во все дни до скончания века» (Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Zeiten) festgehalten. In dieser Zeit wurden das Glockenspielorchester, das Wohltätigkeitszentrum „Hände der Liebe“, das Rehabilitationszentrum „Hilfe“ (Suchthilfe), eine Bibelschule für Teenager und die Gemeindemusikschule ins Leben gerufen. Die Gemeinde musste wieder viele Mitglieder ins Ausland verabschieden – jetzt war es die Auswanderung der Russen in die USA, wo dadurch viele neue Gemeinden entstanden. Manche zogen auch nach Russland. Sergej Kondaurov (1970) wurde im Jahr 2000 zum Mitältesten eingesetzt und löste 2006 Wjatscheslaw Shurawlew als verantwortlicher Älteste ab. Shurawlew diente weiter als Evangelist in Kasachstan. Es begann wieder eine neue Zeit mit mehr Einschränkungen und sinkendem Interesse an Gottes Wort in der Bevölkerung. Trotzdem gibt Gott immer wieder neue Früchte der Verkündigung.
2021 wurde Sergej Aleksejewitsch Kondaurov zum Vorsitzenden des Baptistenbundes von Kasachstan gewählt und übergab 2022 den Dienst als verantwortlicher Gemeindeälteste an Wjatscheslaw Wladimirowitsch Popzow (*1973), der von 2004 bis 2020 Oberältester in Westkasachstan war.
Zum 90. Jubiläum wurde die Geschichte dieser großen und bedeutenden Gemeinde in zwei Büchern beschrieben: «Гостиная служителей» von Viktor Ochman (eine Sammlung von 90 Biographien der Gemeindediener) und «Господь – наша помощь и щит» von Andrej Shurawlew (eine geschichtliche Gesamtdarstellung).