„Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht; denn es ist Gottes Kraft zur Errettung für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden, dann auch für den Griechen“ (Röm 1,16)
Für Paulus war es wichtig, diese Sätze und den ganzen Brief an die Christen in Rom zu schreiben. Er war noch nie vorher in Rom gewesen und wollte von Rom aus Spanien mit dem Evangelium erreichen (Röm 15,24). Er hat die Gläubigen in Rom nicht gebeten, dass sie seine Pläne logistisch oder mit einer Geldsammlung unterstützen sollen. Paulus erläutert das Evangelium in seinem Brief so gründlich und ausführlich, wie sonst in keinem anderen Brief. Warum tut er das? Er will, dass die Gemeinde versteht, was das Evangelium ist und warum es alle Welt hören soll. Darum erläutert er es in dieser Tiefe und Gründlichkeit. Eine Gemeinde, die keine missionarische Sicht hat, zeigt damit, dass sie das Evangelium nicht begriffen hat. Der Wahlspruch von John Charles Beckwith (1789–1862), der die Waldenser prägte, bringt diesen Gedanken auf den Punkt: „Entweder seid ihr Missionare, oder ihr seid nichts.“
Die Kraft des Evangeliums verändert nicht nur die Gesinnung und die Lebensweise eines Menschen, sondern sie ist in der ganzen missionarischen Arbeit wirksam. Paulus bringt seine gesamte Missionsarbeit mit dem Wirken Gottes in Zusammenhang: „Denn ich würde nicht wagen, von irgendetwas zu reden, das nicht Christus durch mich gewirkt hat, um die Heiden zum Gehorsam zu bringen durch Wort und Werk, in der Kraft von Zeichen und Wundern, in der Kraft des Geistes Gottes, so dass ich von Jerusalem an und ringsumher bis nach Illyrien das Evangelium von Christus völlig verkündigt habe“ (Röm 15,18–19). Für Paulus war klar, dass die Überzeugungskraft des Evangeliums nicht von seinen rhetorischen Fähigkeiten abhängt, sondern mit der in der Evangeliumsverkündigung wirksamen Macht Gottes gegeben ist: „Und meine Rede und meine Verkündigung bestand nicht in überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht auf Menschenweisheit beruhe, sondern auf Gottes Kraft“ (1 Kor 2,4–5).
Die Weitergabe des Evangeliums erfordert Kraft
Weitergabe des Evangeliums – ein scheinbarer Grund zum Schämen
Paulus schrieb nach Rom. Was war in dieser Welthauptstadt wichtig? In Rom zählte Macht. Hatte Paulus sie zu bieten? Er wollte von einem gekreuzigten Jesus sprechen, den die Römer auf erbärmlichste Weise haben umbringen lassen. In Rom galt Geld und Reichtum. Was hatte Paulus in dieser Hinsicht zu bieten? Er kam später als Gefangener nach Rom (Apg 28). In Rom galt Wissen. Hier hatte Paulus schon etwas mehr zu bieten, denn er war ein studierter Mann (Apg 22,3). Allerdings war er Jude. Die Römer hatten in vielen Hinsichten antisemitische Einstellungen. Es gab viele Gründe zu sagen: In Rom, da ist anderes wichtig, das Evangelium passt nicht in dieses Umfeld. Auch uns stellen sich solche Fragen: Was ist in Berlin wichtig? Was ist in unserer Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in der Schule wichtig? Kann man da noch mit Jesus ankommen?
Warum kann das Evangelium peinlich sein? Zwei beachtenswerte Gründe sollen hier genannt werden:
(1) Der Mensch ist total auf Hilfe angewiesen. Das ist für den Menschen peinlich. Der Mensch ist der festen Überzeugung, mit seinem Leben selbst klarzukommen. Wenn jemand dann sagt: „Du kannst es nicht, du brauchst einen Retter“, dann macht das den Menschen klein. Der Mensch ist – nach allgemeiner Auffassung – im Kern gut. Wer sich bemüht, kann sich bessern. Das Evangelium wird somit als eine Beleidigung der Menschenwürde empfunden. Die Begründung der Christenverfolgung in Rom des 1. Jahrhunderts war eindeutig: „Hass gegen das Menschengeschlecht.“
(2) Die Polarisierung und Entzweiung der Gesellschaft. Der Herr Jesus sagte über die Auswirkungen seines Kommens: „Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter“ (Mt 10,35). Die Gesellschaft ist um ihren Zusammenhalt bemüht. Das Evangelium jedoch polarisiert und entzweit. Paulus hatte triftige Gründe, sich der Verkündigung des Evangeliums zu schämen.
Eine der ältesten Darstellungen des Kreuzes Jesu Christi bezeichnet den am Kreuz Gestorbenen und seine Lehre als eine „Eselei“. In der ehemaligen Wachstube der kaiserlichen Garde auf dem Palatin in Rom ist eine Karikatur des Kreuzes an die Wand gekritzelt: ein Kreuz, an dem ein Mensch mit einem Eselskopf hängt. Ein römischer Soldat kniet vor diesem Kreuz. Ein Text ist daneben zu entziffern: „Alexamenos [dem seine Kameraden durch diese ironische Kritzelei ihre Verachtung bekundet haben] betet seinen Gott an“ . Für sie war ein Glaube an Jesus Christus eine lächerliche Torheit. Auch heute ist es nicht anders.
Die Weitergabe des Evangeliums – ein geistlicher Kampf
Ein Christ muss sich der Tatsache bewusst sein, dass Evangelisation ein geistlicher Kampf ist: „Wenn aber unser Evangelium verhüllt ist, so ist es bei denen verhüllt, die verlorengehen; bei den Ungläubigen, denen der Gott dieser Weltzeit die Sinne verblendet hat, so dass ihnen das helle Licht des Evangeliums von der Herrlichkeit des Christus nicht aufleuchtet, welcher Gottes Ebenbild ist“ (2 Kor 4,3–4).
Wo das Evangelium von Christus verkündigt wird, seine Herrschaft ausgerufen wird, da ist auch der „Gott dieser Weltzeit“ auf dem Plan. Das Evangelium stellt einen Angriff auf seine Herrschaft dar, die er „rechtmäßig“ aufgrund der Sünde des Menschen ausübt. Er hat Macht. Die Macht, die ihm der Mensch gewährt, indem er seinen verführenden Einflüssen erliegt und als Sünder unter seine Herrschaft versklavt wird (vgl. 2 Kor 2,11; 11,14; 1 Petr 5,8; 1 Joh 3,8–10; Jak 4,7).
Aus den bereits genannten Gründen wird deutlich, dass die Weitergabe des Evangeliums übernatürliche Kraft erfordert. Auch wenn das Evangelium Antworten auf existenzielle Fragen bietet, stellt es die Werte des Menschen auf den Kopf. Wenn wir die Wirklichkeit des Feindes Gottes in Betracht ziehen, so sind wir auf uns selbst gestellt, auf verlorenem Posten.
Die Kraft des Geistes Gottes befähigt zum Zeugnis
Die Kraftquelle der ersten Christen
Wer die Beständigkeit und die Beharrlichkeit des Zeugnisses der ersten Christen verstehen will, muss die Kraftquelle verstehen, aus der sie Tag für Tag schöpften. Als Jesus seinen Jüngern den Missionsauftrag gab, verweist er gleichzeitig auf die damit verbundene Befähigung: „[…] und in seinem Namen soll Buße und Vergebung der Sünden verkündigt werden unter allen Völkern, beginnend in Jerusalem. Ihr aber seid Zeugen hiervon! Und siehe, ich sende auf euch die Verheißung meines Vaters; ihr aber bleibt in der Stadt Jerusalem, bis ihr angetan werdet mit Kraft aus der Höhe!“ (Lk 24,47–49).
Die einzige Erklärung für den unermüdlichen Einsatz und den Erfolg der ersten Christen ist, dass sie mit der übernatürlichen Kraft des Heiligen Geistes ausgerüstet wurden. Der Auftrag der Jünger ging über die gewöhnlichen Dimensionen hinaus. Deshalb bedurften die Jünger einer Kraft, die über die gewohnten Dimensionen hinausging. Die Apostelgeschichte ist darum auch weniger eine Geschichte der Apostel als vielmehr eine Geschichte des Heiligen Geistes, der durch die Apostel wirkte. Niemand kann diesen Bericht lesen, ohne von der Tatsache überzeugt zu werden, dass hier nicht nur Menschen, sondern noch jemand anderes am Werk ist. Auch Paulus erinnert Timotheus an diese Wirklichkeit: „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Zucht. So schäme dich nun nicht des Zeugnisses von unserem Herrn, auch nicht meinetwegen, der ich sein Gefangener bin; sondern leide mit [uns] für das Evangelium in der Kraft Gottes“ (2 Tim 1,7–8).
Der Zugang zur Kraftquelle
Kraft bekommen wir durch Vertrauen
Paulus erinnert die Römer an die Bedeutung des Glaubens: „Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und mit Frieden im Glauben, dass ihr überströmt in der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes!“ (Röm 15,13).
Man gewinnt Vertrauen, indem man Gott beim Wort nimmt. Dazu aber muss man Gottes Wort erforschen und aufnehmen. Wenn wir uns mit den Verheißungen Gottes beschäftigen, kann Gottes Geist unseren Glauben nähren.
Kraft bekommen wir durch Gehorsam
Paulus spricht vom „Glaubensgehorsam“ (Röm 1,5; 15,18; 16,28), denn Glaube und Gehorsam gehören zusammen – wer glaubt, muss gehorchen. Unglaube ist ein Akt des Ungehorsams gegenüber Gott. Ungehorsam ist auf mangelnden Glauben zurückzuführen. Dass das Dulden der Sünde die Wirkung des Geistes blockiert, braucht man hier nicht erklären (vgl. Eph 4,30).
Kraft bekommen wir durch Gemeinschaft mit anderen Gliedern der Gemeinde Christi
Paulus wusste, dass er die Fürbitte der Gemeinde brauchte: „Ich ermahne euch aber, ihr Brüder, um unseres Herrn Jesus Christus und der Liebe des Geistes willen, dass ihr mit mir zusammen kämpft in den Gebeten für mich zu Gott“ (Röm 15,30). Gegenseitige Fürbitte brauchen wir im Missionsdienst heute nicht weniger.
Kraft bekommen wir durch Schwachheit
Gottes Kraft offenbart sich in Schwachheit. Dies ist auch die Erfahrung des Paulus in Galatien: „ihr wisst aber, dass ich euch in Schwachheit des Fleisches zum ersten Mal das Evangelium verkündigt habe“ (Gal 4,13).
Warum kann diese Kraft von uns oft nicht festgestellt werden? Es mag verschiedene Gründe dafür geben:
(1) Gott lässt Menschen nicht alles sehen und feststellen, was er tut.
(2) Gott handelt nicht immer auf übernatürlicher Weise, sodass wir sichtbare Wunder erleben, die auffallen würden. Wir sehen mehr, als wir denken, wenn auch in gewöhnlicher alltäglicher Form, und doch ist es Gottes Handeln. Auch zur Zeit der Bibel hat Gott nicht immer auf übernatürliche Weise gehandelt. Meistens handelt Gott in seiner Schöpfung, die für uns eine Angelegenheit von Ursache und Wirkung ist.
(3) Nicht jeder hat die gleichen Fähigkeiten und den gleichen Dienst von Gott bekommen. In dem Bereich, wo einer schwach ist, ist der andere stark. Das hat mit Gnadengaben zu tun. Dies bringt Begrenzungen mit sich. Jeder von uns ist in seinen Möglichkeiten begrenzt (1 Kor 12,4–6).
Das Wirken des Geistes und die Methode
Paulus hatte in seiner Missionsarbeit gewisse Strategien und wusste auch etwas von Apologetik (vgl. Apg 17). William Barclay sieht keinen Widerspruch zwischen einer Methode und dem Wirken des Heiligen Geistes: „Je mehr der Prediger seinem Verstand erlaubt, träge, nachlässig und schlaff zu werden, je weniger kann der Heilige Geist ihm etwas sagen. Eine gesegnete Predigt gelingt nur, wenn ein liebevolles Herz und ein disziplinierter Verstand dem Heiligen Geist zur Verfügung gestellt werden.“
Beim Verhältnis zwischen Geist und Methode ist folgendes zu beachten:
(1) Die Methode ohne Wirken des Heiligen Geistes führt nicht zum gewünschten Ziel (Wiedergeburt, Wachstum und Veränderung des Lebens).
(2) Der Heilige Geist verwendet menschliche Methoden (die dem Wesen der Heiligen Schrift angemessen sind), um sein Werk zu tun.
Abschließend halten wir fest: Die Verkündigung des Evangeliums erfordert übernatürliche Kraft. Gott aber stellt seinen Jüngern durch den Heiligen Geist die erforderliche Befähigung zur Verfügung. In der gesamten missionarischen Arbeit wird die Kraft des Evangeliums wirksam. Deshalb hat diese Arbeit Sinn und Aussicht auf Erfolg. Der Tagebucheintrag von Jim Elliot (1927–1956) soll uns angesichts des Ernstes dieses Anliegens zu dieser Arbeit ermutigen: „Was sind wir für langweilige und kraftlose Gestalten. Und dabei geben wir vor, an eine Macht zu glauben, die die Welt noch nicht erlebt hat! Unser Motto ist: ‚Nur niemanden weh tun!‘ Kein Wunder, dass uns dann auch niemand weh tut. Wir sind geistliche Pazifisten, himmlische Kriegsdienstverweigerer – und das angesichts einer Schlacht um Leben und Tod mit den geistlichen Mächten in den himmlischen Regionen“.
A. E.
Benutzte Quellen:
Peter H. Uhlmann. Der Erweckungsprediger und Reformator Pierre Waldes und die Waldenserbewegung. Heimenhausen, 2000. S. 44.
Cornelius Tacitus: Annales XV 44,4.
CMV-Materialsammlung (CMV: Bielefeld, 2007).
Zit. in Haddon W. Robinson, Wasser auf dürres Land, Biblisch predigen, S. 22.
Zit. in Mark Mc Closkey. Nutze die Gelegenheit: Der biblische Auftrag der Evangelisation. CMV: Bielefeld, 2019. S. 91.