Die Geschichte einer Flucht

Als am 24. Februar 2022 der Krieg in der Ukraine anfing, hatten die Bewohner der Stadt Melitopol im Süden des Landes – genau dort, wo vor 200 Jahren unsere Vorfahren ansiedelten – nicht lange Zeit, sich auf die neue Situation einzustellen oder sich daran zu gewöhnen. Schon nach wenigen Tagen war Melitopol und die umliegenden Dörfer von russischen Truppen besetzt. Es wurde eine russische Verwaltung eingerichtet, die Zivilbevölkerung wurde aufgefordert, Listen der Wehrfähigen anzufertigen und die Geldwährung sollte auf den Rubel umgestellt werden. Die gesamte Notlage im Land spiegelte sich besonders in den Dörfern wider, in denen viele alte Menschen zurückgeblieben sind, aber auch zahlreiche Familien mit Kindern. Die Versorgungslage hier war schlechter als in der Stadt und die Menschen begannen zu hungern. Wie in vielen anderen Städten bildeten sich auch hier Gruppen von Freiwilligen, die über ihr Netzwerk von Bekannten Lebensmittel und Hygieneartikel aus dem Westen der Ukraine herbeischafften und in den Dörfern verteilten. So kamen Lebensmittelspenden aus dem Westen in die Dörfer Molotschansk, Bogdaniwka, Swetlodolinske, Petrowka, Plodorodnoje – die früher einmal Halbstadt, Gnadenfeld, Lichtenau, Rückenau hießen – und in viele andere Dörfer.


Die 22-jährige Olga organisierte eine solche Mannschaft zur Verteilung von humanitärer Hilfe in den Dörfern. Zwei Monate lang arbeiteten hier Gläubige verschiedener Gemeinderichtungen einträchtig miteinander daran, bedürftigen Menschen zu helfen. „Der Krieg hat uns alle vereint“, sagen sie. Doch die Situation blieb nicht so. Zum einen gab es immer wieder Schusswechsel zwischen ukrainischen Partisanen und russischen Besatzern, zum anderen bauten die russischen Soldaten überall in der Stadt ihre Militärtechnik auf, und die Ukrainer begannen die Stadt wieder zurückzuerobern.
Am 23. Mai stürmten russische Soldaten das Stabsgebäude eines der drei Stützpunkte von humanitärer Hilfe in der Stadt. Sie nahmen die Leiterin gefangen, jagten die Mitarbeiter auseinander und schlossen das Gebäude. Ukrainischen Bürgern wurde verboten, humanitäre Hilfe zu verteilen. In Zukunft wollten die Besatzer selbst für die Versorgung der Bevölkerung sorgen. So erzählte es uns Olga. Das geschah an dem Tag, an dem Olga mit ihrem Mann Nikolai und ihrer einjährigen Tochter ihre lange Flucht antraten. Zuerst fuhren sie mit einer Mitfahrgelegenheit durch das besetzte Gebiet auf die Krim. Am Grenzübergangsposten wurden Olga und die Kleine recht bald durchgelassen, Nikolai wurde gründlich befragt und durchsucht. Man fragte ihn, welche Verbindungen er in der Stadt hatte, ob es ukrainische Beamte und Armeeangehörige oder freiwillige Kämpfer in seinem Bekanntenkreis oder unter den Verwandten gab. Auch die Nachrichten auf seinem Telefon wurden durchsucht. Nach etwa vier Stunden durfte er den Posten passieren – andere sagten, er habe Glück, dass es so schnell gegangen sei. In Dshankoj auf der Krim warteten sie dann neun Stunden auf den Zug nach Moskau. Eine gläubige Familie aus einer Pfingstgemeinde, die sie vorher nicht gekannt hatten, nahm sie für diese Wartezeit in ihr Haus auf. Mit dem Zug fuhren sie dann 27 Stunden bis nach Moskau, wo ein orthodoxer Geistlicher sie empfing und für die Nacht in seine Wohnung aufnahm. Er half ihnen dabei, Tickets nach Kaliningrad zu buchen und brachte sie am nächsten Morgen zum Flughafen. Der Flug nach Kaliningrad dauerte länger als gewöhnlich aufgrund des Umweges, den das Flugzeug wegen des geschlossenen Luftraumes nehmen musste. In Kaliningrad wurden sie wieder lange und gründlich verhört, bis sie endlich aus dem Flughafengebäude heraus durften. Von einer gläubigen Familie aus der Baptistengemeinde, die in der Nähe des Flughafens wohnt, wurden sie empfangen und für die Nacht beherbergt. Am nächsten Tag brachte diese Familie sie zum Grenzübergang. Erst als sie in Polen angekommen waren, konnten sie endlich etwas erleichterter aufatmen. Auch hier gab es freundliche Menschen, die ihnen halfen und am nächsten Tag fuhren sie mit dem Zug weiter nach Berlin, wo sie von einem jungen Ehepaar aus der türkischen christlichen Gemeinde aufgenommen wurden. Von hier aus ging es dann am nächsten Abend nach Frankenthal – zu den Mennoniten. Auf eine gewisse Art schließt sich hier ein Kreis. Vielleicht beginnt aber auch ein neuer. Das Ende der Flucht ist der Anfang an einem unbekannten neuen Ort mit sehr vielen Startschwierigkeiten, in denen die junge Familie noch auf viel Hilfe und Leitung angewiesen sein wird.
N. F.