Ein Dankfest dem Herrn

Das 90-jährige Jubiläum der Baptistengemeinde in Karaganda-Kopaj

Die Tage des Jubiläums sind vorbei. Die Pandemie hatte es unmöglich gemacht, den 90. Jahrestag im letzten Jahr zu feiern, doch die Verschiebung hatte dem Fest keinen Abbruch getan – im Gegenteil, es war noch besser vorbereitet worden und wir freuten uns umso mehr.
Für mich gab es dieses Jahr eine Art doppeltes Jubiläum: Ich war seit fast 30 Jahren nicht mehr in meiner Heimatstadt.
In Moskau warte ich auf meinen Flug. Endlich erscheint auf der Anzeigetafel der Name meiner Heimat-stadt, eine Durchsage erklingt und fordert Passagiere nach Karaganda zum Boarding auf. Wie lange habe ich solch eine Einladung zum Einsteigen nach Karaganda nicht mehr gehört? Unwillkürlich entsteht eine leichte Unruhe: Das Ziel meiner Reise ist mir so vertraut und gleichzeitig so aufregend neu … Wie ist Karaganda heute? In einigen Stunden werde ich dort sein. Längst vergessene Gefühle kommen in mir auf.
Wir landen und gehen durch die Kontrollen. Nach einem kurzen Gespräch sagt der Grenzbeamte: „Willkommen in der Heimat!“ Die Heimat – unsichtbare Fäden verbinden mich mit ihr: das Haus, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, wo ich meine ersten Schritte gemacht und meine ersten Worte gesprochen habe. In dem ich zärtliche Mutterliebe erfahren habe. Die Straßenzüge, in denen ich aufwuchs, wo ich in die Schule ging, meine erste Lehrerin kennenlernte, an die ich mich immer noch dankbar erinnere, Freunde, Klassenkameraden, und natürlich die Gemeinde – unsere Muttergemeinde in Kopaj. Freundschaft unter Christen, Jugendlieder, gemeinsame Arbeit, unsere Prediger … ich kann nicht alles aufzählen, aber all dies verbindet uns eng miteinander.
Und da ist sie, die grenzenlose Steppe. Ein vom Wind getriebener Steppenläufer («перекати поле») rollt vor dem Auto her und erweckt einen fast vergessenen Eindruck aus der Kindheit wieder zum Leben. Es ist so viele Jahre her, dass ich sie zuletzt gesehen habe und ich habe mich nie an sie erinnert. Es warten viele weitere solcher flüchtigen „Auferstehungen“ aus der Erinnerung auf mich.


Dann gibt es Begegnungen, auf die ich mich lange gefreut habe, aber auch unerwartete Überraschungen, die noch mehr Freude bereiteten. Es kam zu neuen Bekanntschaften und zur Auffrischung alter Bekanntschaften.
Zu dem Fest, das als ein Fest des Herrn bezeichnet wurde – und das war es auch – wurde mit dem Bibel-text eingeladen: „Und Mose sprach: Wir wollen mit unseren Jungen und Alten, mit unseren Söhnen und Töchtern, mit unseren Schafen und Rindern ziehen; denn wir haben ein Fest des HERRN!“ (2. Mose 10,9). Und so strömen die ehemaligen „Kopajer“ aus verschiedenen Städten, Ländern und Kontinenten nach Karaganda. Es ähnelt beinahe einer jüdischen Pilgerfahrt nach Jerusalem zum Passahfest: Fröhliche Pilger mit ihren Kindern, Frauen und Alten strömten nach Jerusalem, und je näher sie ihrem Ziel kamen, desto mehr fielen sie unter den Kaufleuten und Heiden auf. Auch wir haben mit Autos, Zügen und Flugzeugen weite Strecken zurückgelegt, Ozeane, Meere, Berge und Täler überquert.
Dieses Fest des Herrn ist etwas ganz anderes als ein Treffen von Klassenkameraden, bei dem es außer ein paar Erinnerungen nichts mehr zu besprechen gibt. Klassenkameraden entwickeln sich im Laufe der Jahre zu unterschiedlich und wachsen auseinander. Trotzdem geht es auch an diesem Jahrestag natürlich um Erinnerungen, und man nimmt sich viel Zeit dafür. Im Gegensatz zu anderen Gemeinschaften sind wir nicht nur durch die Vergangenheit, sondern auch durch die Gegenwart und die Zukunft miteinander verbunden. So haben wir immer Gesprächsstoff, auch wenn sich einige von uns seit Jahren nicht mehr gesehen haben.
Die erste Versammlung im Rahmen der Jubiläumsveranstaltungen steht an. Ich gehe in den Innenhof und betrachte das neue Gemeindegebäude, das den Namen „Stern von Bethlehem“ trägt. Alles ist neu und ungewohnt. Überall viele Kinder und Jugendliche. Ich betrachte den dekorierten, geräumigen Saal des ehemaligen Kinosaals. Kaum etwas erinnert mich an seine frühere Bestimmung. Dies ist jetzt ein Haus Gottes, ein Ort, an dem der Herr verherrlicht wird, an dem Tausende von Gebeten emporsteigen und Loblieder gesungen werden. Wir sind zwar nicht an einen Ort der Anbetung gebunden, wir wechseln ihn, wenn es nötig ist, aber ein Ort, an dem sich Gläubige versammeln, ist ein schöner Ort.
Ein feierliches Gebet erklingt und das Fest des Herrn beginnt! Mit Trompeten, Klavier und einem Chor wird schön und kräftig Gott, dem Allmächtigen, ein Lob gesungen. Kurze, unakademische Predigten erinnern uns an die Vergangenheit, an die Pioniere und Helden des Glaubens, die viel Leid und Tränen ertragen haben. Aber die Tränen, zum Teil mit Blut vermischt, wurden zum Keim für die zukünftige große Gemeinde Karaganda-Kopaj. Die Prediger erinnern an die Gegenwart und an die Zukunft. Wie im Flug vergeht die zweistündige Versammlung. Es folgt ein gemeinsames Essen und endlose Gespräche – eine sehr angenehme Zeit. In den Häusern, in denen Gäste untergebracht werden, hört man noch bis in die Nacht hinein lange Gespräche, Erinnerungen und Lieder.
Am nächsten Tag, ein Samstag, findet eine besondere Versammlung statt. Wir fahren zu dem Ort, an dem früher das Bethaus stand. Der Ort wurde „schwarzes Meer“ genannt, nach der schwarzen Erde, dem Pro-dukt der Kohleverarbeitung und -aufbereitung. Jetzt ist dort eine Einöde. Heute steht ein großes Zelt auf den alten Fundamenten und ein großer Tisch, wo früher das Taufbecken war. Die Stufen, über die wir einst zum Gebetshaus hinaufstiegen, sind erhalten geblieben. Es gibt im Zelt, übrigens wie damals, nicht genügend Sitzplätze für alle, viele müssen stehen. So schaffen viele, teilweise unsichtbaren Details eine Atmosphäre, die sich nur schwer in Worte fassen lässt. Sicherlich beten wir nicht alte Steine und ein bestimmtes Stück Land an. Wir loben den Herrn wie an jedem anderen Ort, singen, beten und feiern das Abendmahl. Die Organisatoren des Festes versuchen, auf diese Weise die Atmosphäre der 50er bis zu den 90er Jahren wiederherzustellen, und es gelingt. Gott sei Dank! Ich fühle mich, als wäre ich nach Hause gekommen.
Das Thema des Tages ist der Psalm 25,10: „Alle Pfade des HERRN sind Gnade und Wahrheit für die, welche seinen Bund und seine Zeugnisse bewahren.“
Wir verallgemeinern oft, indem wir sagen: alle, alles, ganz, zum Beispiel, indem man sagt, „alles ist gut“, wenn es aber Probleme gibt – oder umgekehrt, „alles ist schlecht“, und dabei gibt es so viele positive Dinge. Aber wenn das Wort Gottes sagt: „Alle Pfade des HERRN …“, dann bedeutet das wirklich alle, ohne Ausnahme. Das ist nicht immer leicht anzunehmen, aber unser Unvermögen bewirkt keine Ausnahmen. In diesem Zusammenhang werden wir an unsere Brüder und Schwestern erinnert, die sehr schwierige Wege gehen mussten und die nicht immer verstanden haben, warum sie so viel Leid ertragen mussten. Wenn die Bibel sagt, dass die ganze Welt im Bösen liegt, dann meint sie die ganze Welt, ohne Ausnahme. Das heißt: nicht die ganze Welt außer meinem Land oder meiner Familie oder außer mir. Es gilt gleichermaßen für hoch entwickelte Länder wie für die wildesten Stämme. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass wir uns irgendwo vor der Sünde verstecken können. Konflikte, Kriege, Krankheiten, Leid und Ungerechtigkeit werden nur zunehmen.
Eine Exkursion in das KARLAG-Museum veranschaulicht, wohin die ungezügelte menschliche Sündhaf-tigkeit führen kann. Aber wie erfrischend, ermutigend und hoffnungsvoll klingen die Worte des Apostels Paulus: „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus erwarten als den Retter“ (Philpper 3,20). Unsere Vorfahren, wir und die Gläubigen, die nach uns kommen werden, warten auf das Reich, in dem es keine Not geben wird. Es ist ein Reich der Wahrheit, der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit und der Liebe. Das ist unser Ziel!
Nach dem Mittagessen wird ein Ausflug zum Friedhof organisiert. Die Ereignisse des letzten Jahrhunderts erscheinen uns wie eine ferne Vergangenheit und die Überreste der Menschen, die damals lebten, sind längst verwest. Aber hier stehen wir an der Grabstätte des ersten Ältesten, des Sammlers der verstreuten Kinder Christi im schweren Exil, in der Steppe von Kasachstan. Wir sind Menschen, und der Wunsch von Thomas, zu fühlen, zu berühren, anzufassen, ist uns sehr nahe und verständlich. An diesem Grab empfinden wir die Realität des gesegneten Dieners Stepan Iwanowitsch Kolesnikow. Hier wird die Geschichte lebendig: Unsere Väter sahen und hörten ihn, unsere Großväter ließen sich von ihm taufen und dienten gemeinsam mit ihm dem Herrn. Eine ehrfurchtgebietende Erkenntnis!


An seinem Grab hören wir noch einmal die Geschichte seines Lebens: seine Arbeit, seine Gefangenschaft, sein Dienst nach dem Krieg, der Segen der größten Taufe von 112 Gläubigen an einem Tag, seine Absetzung vom Dienst, seine Betrübnis. „Der Gerechte muss viel Böses erleiden; aber aus allem rettet ihn der Herr“ (Psalm 34,20). Kinder legen Blumen auf sein Grab, wir singen dem Herrn und beten.
In Gedanken versunken fahren wir wieder zum Bethaus. Bei der abendlichen Versammlung wird unser Verstand herausgefordert: Es gibt historische Vorträge. Wer seine Geschichte nicht kennt, ist gezwungen, alte Fehler zu wiederholen.
Und schließlich der Höhepunkt des Festes – die Versammlung am Sonntagmorgen. Das Thema des Tages stammt aus Psalm 95: „Kommt, lasst uns anbeten und uns beugen, lasst uns niederfallen vor dem HERRN, unserem Schöpfer!“ Im Gegensatz zu den Herrschern der Erde erzwingt der Herr keine Anbetung. Er will keine schmeichelnden Lobpreisungen von unterwürfigen Dienern hören. Er will keine Opfer, die aus Pflichtgefühl und Gleichgültigkeit dargebracht werden, wie der Herr durch den Propheten Jesaja sagt. Er sucht Anbeter, die Ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten, die dies wissentlich und von ganzem Herzen tun. Der Psalmist fordert die Gläubigen auf, sich vor Gott zu beugen, und das ist keine sklavische Pflicht, sondern ein großes Privileg, das wir alle gemeinsam nutzen, indem wir knien und dem Herrn die Ehre geben. Ich werde die Feierlichkeit nicht detailliert beschreiben, denn meine Sprache ist zu arm, um die Atmosphäre des gemeinsamen Gotteslobes auszudrücken. Die drei Stunden vergehen unmerklich, ohne Anspannung, mit Freude und oft auch mit Tränen. Glücklicherweise gibt es Aufnahmen, sodass man sich die Versammlung noch einmal anschauen kann – und doch kann eine Aufnahme nicht die Fülle aller Empfindungen weitergeben. Gesegnet sind diejenigen, die die Gelegenheit haben, persönlich dabei zu sein.
Zwischen den Versammlungen und der gesegneten, herzlichen Gemeinschaft an den Tischen haben wir die Gelegenheit, eine Ausstellung über die Gemeindegeschichte von Karaganda-Kopaj zu besuchen. Manche mögen sich fragen: „Was ist das für eine Bezeichnung, ‚Kopaj-Gemeinde‘, das ist ja kein biblisches Wort“? Und was genau ist ‚Kopaj‘?“ Die Erklärung ist, wie immer, einfach. Als die Verbannten in diese Steppe gebracht wurden, wartete niemand auf sie und niemand hatte Unterkünfte vorbereitet. Man kann sich die Verzweiflung der Deportierten nur vorstellen… Aber sie wollten leben und ihr Leben irgendwie gestalten. So fingen sie an, Gruben zu graben und sie mit allem, was sie hatten, zu bedecken. Später bauten sie besser ausgestattete Erdhütten, die nach dem Wort „graben“ (russisch „копать“) benannt wurden, was zu dem Namen „Kopaj-Stadt“ führte. Aus dem Standort der Gemeinde, die übrigens ursprünglich auch in einer Erdhütte war, ergab sich spontan der Name „Kopaj-Gemeinde“.
Die Organisatoren der Ausstellung spiegeln sehr kompetent, einfach und kostengünstig die Geschichte der Gemeinde wider. Sie sammelten Raritäten, bauten Modelle des Gebetshauses, wie es wiederaufgebaut und umgestaltet wurde. An den Wänden hängen vergrößerte alte Fotos, auf denen die Gesichter von Predigern, Dirigenten und Getauften zu erkennen sind. Ständig bildet sich eine Schlange von Besuchern, die einen Blick in das Gedenkbuch werfen wollen und den großen Wunsch haben, den eigenen Namen in der Liste der Gemeindemitglieder zu sehen. Man könnte meinen, was ist so interessant daran? Was ist in deinem Namen? Aber siehe da, es gibt eine Warteschlange!
Interessant ist die Darstellung eines Schneesturmes in Karaganda: Ein mit Kohlenstaub und Schnee be-deckter Weg, der zu einem warmen, gemütlichen und vertrauten Bethaus führt. Die vertrauten Bilder aus Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden werden zum Leben erweckt. Das Gedächtnis ist eine so wunderbare menschliche Fähigkeit, mit der wir den Herrn preisen können: „Und du sollst an den ganzen Weg gedenken, durch den der Herr, dein Gott, dich geführt hat“ (5. Mose 8,2). Vielen Dank für die Idee, die Umsetzung und die harte Arbeit an der Ausstellung!
Gegen Ende des Jubiläums sind alle ein wenig müde von den Erlebnissen, den Emotionen, den stürmi-schen Begegnungen, dem Staub von Karaganda und dem Steppenwind, sodass die Abschlussveranstaltung eine einfache, fast planlose Gemeinschaft ist, bei der man Erinnerungen austauschen kann. Besonders erwähnen möchte ich das Zeugnis von Galym Tolekejew. Für viele Generationen von Gläubigen war es absolut undenkbar, ein Zeugnis von Christus, dem Erlöser, aus dem Mund eines Kasachen und ein geistliches Lied in kasachischer Sprache, begleitet mit der Dombra, zu hören. Viele haben dafür gebetet, aber sie sind in den Himmel gegangen, ohne es gesehen zu haben. Viele hatten sich gefragt, warum so viel Mühe und Mittel für die Übersetzung des Evangeliums in die kasachische Sprache aufgewendet wur-de. Jetzt ist es klar – es war ein Werk Gottes, und es hat Früchte getragen und trägt weiterhin Früchte, Gott sei Dank!
In diesen Tagen genießen wir die zentralasiatische Küche: Manty, Plov und natürlich Beschbarmak und Surpa. Das ist etwas Unvergleichliches. Obwohl ich früher in Karaganda gelebt habe, habe ich so ein Gericht noch nie genossen! Ich kann mir vorstellen, welche Anstrengungen es für die Köche, das gesamte Küchen- und Bedienungspersonal bedeutet, dieses Fest zu gestalten.
Dank der Bemühungen vieler Menschen, deren Namen wir nicht kennen, war dieses Fest möglich. Alles war sauber, ordentlich, pünktlich, begleitet von Freundlichkeit und Lächeln. Ich kann nicht alles und jeden aufzählen, aber der Herr kennt jede Regung des Herzens und jede Anstrengung zur Ehre Gottes! Gott segne euch, Brüder und Schwestern von Karaganda! Ihr habt dem Herrn und uns ein wunderbares Fest bereitet, vielen Dank!
G. B.